Interview

„Schulen einfach mit Technik auszu­statten ist teuer und bringt gar nichts.“

Bibi, Gronkh und andere YouTuber gehören zum Alltag vieler Schüler, sind für ihre Lehrkräfte aber oft böhmische Dörfer. Für Prof. Dr. Roland Rosenstock gehört daher mehr als bloße Technik in den Unterricht. Im Interview spricht der Medienpädagoge über die Veränderungen des Lehrberufs und Schüleralltags durch die Digitalisierung.

17.07.2019 Bundesweit Artikel BEGEGNUNG, Martin Stengel
  • © Universität Greifswald/Hannah Weißbrodt Dr. Rosenstock ist seit 2009 Professor für Religions- und Medienpädagogik an der Universität Greifswald und Leiter des Medienzentrums Greifswald e.V.

Prof. Rosenstock, laut Digitalisierungsgegnern ist das viele Wischen auf Handys für das Denken schädlich. Beispielsweise hat sich der Digital-Kritiker Prof. Dr. Gerald Lembke dafür ausgesprochen, digitale Medien aus der Grundschule rauszuhalten. Wo liegt das Mindestalter für die Nutzung in Schule und Kita?
Kinder machen heute bereits ab drei Jahren erste Erfahrungen mit Apps und dem Internet. Anstatt digitale Medien aus Kita und Grundschule rauszuhalten, brauchen wir daher Medienbildungskonzepte entlang der Bildungskette. Wir müssen uns besonders die Frage stellen: Was brauchen Kinder für Kompetenzen, bevor ihnen mit dem Smartphone die weite Online-Welt offensteht? Kinder bekommen heute in der Regel zwischen zehn und zwölf Jahren ein eigenes Smartphone. Deshalb benötigen wir besonders für die 4. Klasse Konzepte, die die Gesundheits- und Medienerziehung miteinander verbinden.

Wäre es nicht wichtiger, Kindern zuerst richtiges Lesen, Rechnen und Schreiben statt die Verwendung von Tablets und Handys beizubringen?
Medienkompetenz ist heute eine Lebenskompetenz und muss von Beginn an gelernt werden. Ich finde es irreführend, wenn Lesen, Rechnen und Schreiben gegen das Lernen mit digitalen Medien ausgespielt werden. Zumal besonders Grundschulkinder durch geeignete Apps in ihrer Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz gefördert werden können. Im Strategiepapier der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ heißt es, dass digitale Lernumgebungen eingesetzt werden sollen, soweit dies pädagogisch sinnvoll ist. Lehrkräfte entscheiden also selbst, wann sie digitale Medien einsetzen.

Welchen Einfluss hat die zunehmende Nutzung digitaler Medien auf die Entwicklung der Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen?
Mediennutzungsstudien zeigen, dass Medien für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ein wichtiger Sozialisationsfaktor sind. Sicherlich sind Eltern bei Kindern bis acht Jahren als Vorbild sehr bedeutsam für die Entwicklung. Aber ab dem achten Lebensjahr werden bereits Gleichaltrige wichtig. Im Übergang zum Jugendalter sind dann YouTuber die Sozialisationsbegleiter: Bibi, Gronkh und Co. helfen den Jugendlichen, in ihre Rolle als Mann und Frau hineinzuwachsen. Es ist spannend, in welchen YouTubeKanälen sich die Jungen und in welchen sich die Mädchen tummeln und welche Werte sie dort vermittelt bekommen. Mädchen werden besonders durch Lifestyle und Unterhaltungskanäle geprägt, Jungen durch Gaming. Ein Aufwachsen von Kindern ohne YouTube ist heute undenkbar.

Smartphones zielen auf die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer. Sehen Sie keine Suchtgefahr bei der Smartphone-Nutzung für Kinder und Jugendliche?
Wir sollten vorsichtig sein, Kinder- und Jugendliche in die Suchtecke zu stellen. Wenn wir über Sucht reden, dann geht es um bestimmte erkennbare Merkmale: Die Betroffenen vernachlässigen beispielswiese ihre Hobbys, ziehen sich zurück, lassen psychische Auffälligkeiten erkennen und die Leistungen in der Schule sinken. Eine medizinische Diagnose Smartphone-Sucht gibt es nicht. Wir wissen aber, dass Smartphones Stressphänomene verstärken. Deshalb ist es wichtig, dass wir bereits in der Grundschule mit den Kindern Strategien zur Stressprävention entwickeln. Dazu gehören auch Zeiten frei von Smartphones. Aber das Smartphone ist heute ein Teil des Körpers, so wie früher die Armbanduhr. Es ist aus unserer Alltagskultur nicht mehr wegzudenken.

Wie beurteilen Sie die Kritik, dass Smartphones zu Schlafstörungen, Kurzsichtigkeit oder hohem Blutdruck führen können, wie es gerade vor allem in Südkorea zu beobachten ist?
Wie im Straßenverkehr oder beim Sport gibt es auch bei der Mediennutzung Risiken und gesundheitliche Gefahren. Dazu gehören Kurzsichtigkeit, Kopfschmerzen und auch Haltungsschäden. Wir benötigen bereits in der Grundschule Präventionsprogramme, die die Themen Stress, Bewegung, Ernährung und Augengesundheit in Zusammenhang mit digitalen Medien vermitteln.

Der Diskurs um digitale Medien in der Schule scheint sehr schwarz-weiß: entweder ganz oder garnicht. Wie kommt es, dass dieses Thema so polarisiert?
Die Digitalisierung fällt nicht plötzlich vom Himmel. Die Entwicklung, in der wir uns jetzt befinden, hat bereits vor mehr als 20 Jahren begonnen, und das Problem der digitalen Spaltung ist real. Dabei lautet die gesellschaftliche Frage: Wie nehmen wir die Menschen mit? Viele fühlen sich angesichts der Beschleunigung der Veränderungen unsicher, manche haben regelrecht Angst davor. Grundsätzlich sollten wir aber in die Zukunft blicken und fragen, welche Lebens- und Berufskompetenzen Kinder und Jugendliche in der Welt benötigen, in die wir sie entlassen werden. Der Streit um die Folgen der Digitalisierung gehört nicht ins Elternhaus oder die Schule, sondern in die Öffentlichkeit. Nicht die Kinder sind dafür verantwortlich, sondern Wirtschaft, Politik und gesellschaftliche Großgruppen wie die Kirchen. Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs darüber, wie wir eine durch Medien geprägte Gesellschaft menschlich gestalten können.

Der Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer hat gesagt, es sei ein Skandal, dass Tablets in Bildungseinrichtungen ausgegeben werden. Wie beurteilen Sie diese Aussage?
Manfred Spitzer folgt einer Verschwörungstheorie, die ich sehr problematisch finde. Politik und Wirtschaft haben sich seiner Meinung nach verbunden, um uns abhängig zu machen. Dabei nimmt er die Entwicklung jedoch als Psychiater und Kliniker wahr – nicht als Medienpädagoge. Mit seinen klaren und einfachen Botschaften appelliert er an die Eltern und predigt als selbst ernannter Erlöser eine Bewahrpädagogik, die letztlich zu vielen Konflikten im Kinder- und Klassenzimmer führt. Seine Aussagen über die Folgen von Stress im Zusammenhang mit der Mediennutzung sind dagegen ernst zu nehmen. Bei anderen Aussagen wäre es besser, er würde einen Gang zurückschalten. Sie sind für eine sachliche Debatte und im Familienalltag wenig hilfreich.

Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Medienbildung von Lehrkräften?
Grundsätzlich ist die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer gegeben. Wir sollten ihnen vor allem Zeit lassen und dafür sorgen, dass wir sie bei den gegenwärtigen Herausforderungen nicht verlieren. Denn auf die Lehrerpersönlichkeit kommt es an – besonders bei den Medien. Schulen einfach mit Technik auszustatten ist teuer und bringt gar nichts. Die pädagogische Fachkraft verändert ihre Rolle und begleitet die Kinder im Idealfall auf ihrem eigenen Lernweg. Dabei ist für die Lehrkräfte vor allem die Zeit für ihre Unterrichtsvorbereitung wichtig. Der Lehrende muss sich einen Überblick verschaffen, was es für Apps und Internetseiten für sein Fach gibt und wie er sie einsetzen kann. Es wäre gut, wenn die Schulen die Erarbeitung von Medienbildungskonzepten nutzen würden, um in Workshops das ganze Kollegium mitzunehmen. Die Lehrer müssen erfahren, wie erprobte Lernplattformen ihre Unterrichtsvorbereitung vereinfachen. Mittelfristig wird sie die didaktische Arbeit mit und über digitale Medien entlasten. 

Braucht es ein Pflichtfach Informatik oder sollten digitale Kompetenzen in den jeweiligen Fächern vermittelt werden?
Ein Pflichtfach Informatik braucht es nicht. Informatik sollte aber an jeder Schule als Wahlfach angeboten werden. Ein eigenes Fach für Medienbildung ist vielleicht in einer Übergangszeit wichtig, bis die Bedeutung der Entwicklung von Medienkompetenz in jedem Fach als Querschnittsaufgabe erkannt worden ist. Informatische Kompetenzen, die vor allem der Berufsvorbereitung dienen, und Medienkompetenzen, die Kinder und Jugendliche für ihre Identitätsentwicklung und für die Weiterentwicklung unserer demokratischen Gesellschaftsform brauchen, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Hier ist der Austausch zwischen Medienbildung und Informatik wichtig.

An französischen Schulen sind Smartphones seit 2018 verboten. Welche Folgen wird das für die heranwachsende Generation haben?
Die Folgen für Frankreich kann ich nicht einschätzen, aber ich finde, dass wir einen anderen Weg gehen sollten. Es geht doch darum, wie ich das Smartphone pädagogisch sinnvoll für das Lernen einsetzen kann. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Kompetenzen unserer Schüler noch stärker in den Unterricht einbinden können. Anstatt Angst davor zu haben, dass die Schüler das Smartphone zur Unterhaltung und Ablenkung nutzen, sollten wirzusammen mit ihnen die vielen positiven Möglichkeiten nutzen. Wenn wir uns zum Beispiel anschauen, wie Schülerinnen und Schüler sich heute auf das Abitur vorbereiten, spielt YouTube dabei eine große Rolle. Für einen guten Unterricht sollten wir jedoch auch gezielt medienfreie Zeiten einplanen. Entschleunigung und Resonanz gelingen vor allem durch Erfahrungen von Stille und vertiefter Wahrnehmung. Um gesund und selbstbewusst mit Medien umgehen zu können, brauchen wir auch die Erfahrung von Achtsamkeit und Verantwortung für unser Handeln. 

Dieser Beitrag wurde zuerst in der Zeitschrift "BEGEGNUNG – Deutsche schulische Arbeit im Ausland" 2-2019 veröffentlicht.

 

 



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