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Narzissmus: Auf dem einsamen Sockel

Es gibt zwei Theorien zu den Wurzeln narzisstischer Persönlichkeiten: Die Eltern hätten ihnen in der Kindheit zu wenig oder aber überzogen viel Lob und Aufmerksamkeit geschenkt. Was stimmt?
Trauriger Junge mit goldener Papierkrone auf dem Kopf

»Das hab ich noch nie gemacht, also werd ich es schaffen«, behauptet Pippi Langstrumpf. Ihre unbedarfte Einstellung ist typisch für Kinder, aber auch Erwachsene geben sich hin und wieder Wunschvorstellungen hin, die ihrem Ego wohltun. Und das dürfen sie auch, findet der Psychoanalytiker Frans Schalkwijk von der Universität Amsterdam. In seinem jüngst veröffentlichten Buch über Narzissmus schildert er eine Reihe eigener Größenfantasien. So halte er sich für den allerbesten Psychoanalytiker – innerhalb seiner eigenen vier Wände. Außerdem stelle er sich unterwegs mit seinen Enkeln gerne vor, dass jeder bemerke, wie toll er mit den Kleinen umgeht. Ihm sei schon klar, dass die Passanten wahrscheinlich andere Dinge im Kopf oder höchstens Augen für die Kleinen hätten. Doch solche Größenfantasien seien harmlos, solange man sie selbst nicht allzu ernst nehme.

Bei Narzissten laufen diese Gedanken allerdings aus dem Ruder, erklärt Schalkwijk. Sie sind von ihrer Großartigkeit überzeugt. Das müssten sie auch, denn sie verfügen über kein stabiles Selbstbild und könnten es deshalb schlecht ertragen, sich unbedeutend zu fühlen. Entweder sind sie die Besten, oder sie sind überhaupt nichts wert. Ein Mittelding gebe es für sie nicht.

Um ihr übertrieben positives Selbstbild zu schützen, interpretieren Narzissten die Wirklichkeit ständig zu ihren Gunsten um. Abweichende Meinungen tun sie als mangelnde Einsicht ab oder führen sie auf Neid oder Eifersucht zurück. Wegen ihres fragilen Selbstbilds tun sie sich auch schwer, ihre Emotionen zu regulieren: Sie fühlen sich schnell angegriffen und reagieren ungehalten. Eine kleine Meinungsverschiedenheit löst auf diese Weise leicht einen narzisstischen Wutanfall aus. Kein Wunder, dass Narzissmus oft mit zwischenmenschlichen Problemen einhergeht.

Das Problem von Narziss, dem schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie, war nicht, dass er sich selbst so sehr liebte, sondern dass er niemanden außer sich selbst liebte

Für Schalkwijk ist die Abkehr von den Mitmenschen der eigentliche Kern der Sache. Das Problem von Narziss, dem schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie, war nicht, dass er sich selbst so sehr liebte – sondern dass er niemanden außer sich selbst liebte. Sogar die bezaubernde Nymphe Echo verschmähte er, und darauf folgte eine göttliche Strafe: Er verliebte sich in sein eigenes Spiegelbild. Der Mythos nimmt für ihn kein gutes Ende: In der einen Variante ertrank er, in der anderen siechte er langsam dahin.

Genug von den alten Griechen. Woran erkennt man Narzissten im Alltag? »Angenommen, du unterhältst dich auf einer Party mit einem Narzissten«, sagt Schalkwijk. »Sobald er deinen Beruf erfährt, wird er dir erklären, wie deine Welt funktioniert. Auch wenn er keine Ahnung davon hat.«

Es gibt aber noch eine weniger auffällige Variante. »Jemand will alles über einen wissen, scheint wirklich interessiert und hängt einem an den Lippen«, fährt Schalkwijk fort. »Doch auch hier fehlt es an Gegenseitigkeit, denn am Ende des Gesprächs merkt man, dass man nichts von seinem Gegenüber erfahren hat.«

Kennzeichen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nach DSM-5

  • Grandioses Gefühl von Wichtigkeit, Übertreiben eigener Leistungen und Talente
  • Fantasien von Erfolg, Macht, Schönheit oder perfekter Liebe
  • Glaube, besonders zu sein und nur mit besonderen Menschen auf Augenhöhe zu sein
  • Verlangen nach Bewunderung
  • Anspruchshaltung und Erwartung, bevorzugt behandelt zu werden
  • Nutzenorientierte Beziehungen
  • Mangel an Empathie und Rücksicht auf Gefühle und Bedürfnisse anderer
  • Neid oder Vermutung, andere seien neidisch
  • Überheblichkeit

Der erste Gesprächspartner – voll und ganz mit seiner eigenen Großartigkeit beschäftigt – vereint viele Züge, die das klinische Handbuch DSM-5 zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung zählt. Die Diagnosebibel der Psychiatrie legt den Fokus auf die zur Schau gestellte Großartigkeit und das Bedürfnis nach Bewunderung. Das greife aber zu kurz, meint Schalkwijk. Neben diesem »grandiosen« Narzissmus gibt es eine Variante, die mit sozial erwünschteren Eigenschaften und Verhaltensweisen einhergeht: den »verletzlichen« Narzissmus. Charakteristisch seien Schamgefühle und Überempfindlichkeit gegenüber Kritik und Ablehnung.

»Indem er sich interessiert und hilfsbereit zeigt, übernimmt der verletzliche Narzisst die Rolle der Mutter Teresa«, sagt Schalkwijk. »Das hat auch etwas Nötigendes, beschränkt die Autonomie. Es geht dem Narzissten nicht um die Bedürfnisse seines Gegenübers, sondern darum, Lob und Dankbarkeit zu erfahren.«

Lange Zeit wurden grandiose und verletzliche Narzissten als zwei verschiedene Gruppen betrachtet. Einer neuen Sichtweise zufolge tragen jedoch alle narzisstischen Persönlichkeiten beides in sich, in unterschiedlichem Ausmaß. Wer am Vorabend der schillernde Mittelpunkt einer Party war, kann sich am nächsten Tag sorgen, welchen Eindruck er wohl hinterlassen hat. Ein und dieselbe Person kann sich mal großartig in Szene setzen, mal hochgradig verwundbar sein.

Die Tragödie des Narzissten

Narzissmus hat seinen Ursprung in der Kindheit, so Schalkwijk. Wenn die Eltern nicht auf die Bedürfnisse ihres Babys nach Aufmerksamkeit und Verständnis eingehen, wird das Kind verunsichert, reagiert verstört. Warum sehen sie nicht, wie ich mich fühle? Warum tun sie nicht etwas, damit es mir besser geht? Nach einer unendlichen Anzahl solcher Enttäuschungen »entscheidet« das Kind, dass es ohne andere Menschen auskommen möchte. Es entwickelt sich ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster. »Die Tragödie ist, dass ein Narzisst eigentlich unbedingt andere Menschen braucht«, sagt Schalkwijk. »Seine Eltern haben ihn nicht ausreichend spüren lassen, dass sie ihn lieben. Deshalb hat er ein derart großes Bedürfnis, bewundert zu werden, dass er damit andere abstößt.«

Diese Dynamik beschreibt Schalkwijks Landsmann Martin Appelo, Psychologe und Verhaltenstherapeut, als Teufelskreis: Um das instabile Selbst nicht spüren zu müssen, blasen sich Narzissten auf und hinterlassen so oft einen selbstbewussten ersten Eindruck. Fällt dem Gegenüber der Mangel an Wechselseitigkeit auf, gehe die Wertschätzung jedoch verloren. Narzissten empfinden das als Angriff, werten das Gegenüber ab und stehen schließlich allein da. Das instabile Selbst wird bestätigt; der Kreis schließt sich.

Der Psychologe Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam glaubt zwar ebenfalls, dass Narzissten in einem Teufelskreis feststecken. Der Grund liege allerdings nicht in einem instabilen Selbst oder einem niedrigen Selbstwertgefühl. »Das würde zwar erklären, warum sich Narzissten manchmal schämen, obwohl sie sich großartig zu finden scheinen«, sagt Brummelman. »Aber mehrere Forschungsgruppen haben die Hypothese überprüft, und eine zusammenfassende Metaanalyse spricht dagegen, dass Narzissten unbewusst ein geringes Selbstwertgefühl haben.« Brummelman meint, dass vielmehr das Gefühl der eigenen Überlegenheit den Teufelskreis aufrechterhalte, denn das mache sie verwundbar: »Narzissten spielen sich auf, um von anderen bestätigt zu bekommen, dass sie zu den Besten gehören.«

Die Überzeugung, überlegen oder etwas Besonderes zu sein, ist nicht dasselbe wie ein hohes Selbstwertgefühl. Der Narzisst ist der Überzeugung, der Wert von Menschen lasse sich hierarchisch ausdrücken, und er stellt sich auf einen einsamen Sockel. Ein Mensch mit hohem Selbstwertgefühl hingegen hält sich für wertvoll, aber nicht für wertvoller als andere. Wenn man beides per Fragebogen misst, stellt sich heraus, dass es sich um zwei weitgehend unabhängige Dimensionen handelt. Es gibt in etwa so viele Narzissten mit einem hohen wie mit einem niedrigen Selbstwertgefühl.

Zwei Theorien vom Ursprung

Selbstwertgefühl und Narzissmus zeigen sich ungefähr im Alter von sieben Jahren. Erst dann haben Kinder ein allgemeines Urteil über sich selbst entwickelt, unter anderem, indem sie sich mit Gleichaltrigen vergleichen. In diesem Alter beginnen sie auch darüber nachzudenken, welchen Eindruck sie bei anderen hinterlassen. Brummelman betrachtet daher die mittlere und späte Kindheit als wichtigste Phase bei der Entstehung von Narzissmus.

Wie kommt es also, dass einige Kinder stark narzisstische Züge entwickeln? Nach psychoanalytischer Auffassung sind narzisstische Merkmale ein Versuch, die Leere zu kompensieren, die durch den Mangel an elterlicher Wärme entsteht. Kinder versuchen sich als großartig darzustellen, wenn sie sich von ihren Eltern nicht genug gesehen und verstanden fühlen.

Eine andere Erklärung bietet die Theorie des sozialen Lernens: Kinder finden sich dann selbst großartig, wenn Mama und Papa sie auf ein Podest stellen, als Geschenk des Himmels betrachten und zu stark übertriebenen und unverdienten Komplimenten neigen – und das weitgehend losgelöst von der Realität. »Zum Beispiel halten diese Eltern ihr Kind für viel intelligenter, als dessen IQ es nahelegt«, erläutert Brummelman. »Es beginnt schon mit der Geburt: Überwertschätzende Eltern geben ihren Kindern oft einen ausgefallenen Vornamen.«

Die implizite Botschaft: Wir mögen dich, weil du besonders bist

Brummelman testete die beiden konkurrierenden Theorien zur Entwicklung von Narzissmus in einer Langzeitstudie, an der mehr als 500 Kinder im Alter zwischen sieben und elf Jahren sowie deren Eltern teilnahmen. Die Hypothese der sozialen Lerntheorie bestätigte sich: Narzissmus hing deutlich mit übertriebener Wertschätzung zusammen, aber nicht mit einem Mangel an elterlicher Zuwendung.

Ein Kind lernt also, sich selbst für besonders zu halten, wenn seine Eltern es entsprechend behandeln, und es entwickelt Anspruchsdenken, wenn seine Eltern ihm einen Sonderstatus zugestehen. Laut Brummelman ist es die mit dem Besonderen verknüpfte Aufmerksamkeit, die zu Narzissmus führt. »Die betreffenden Eltern finden es so wichtig, dass ihr Kind sich von der Masse abhebt, dass sie eine implizite Botschaft vermitteln: Wir mögen dich, weil du besonders, weil du herausragend bist.«

Mangelnde elterliche Aufmerksamkeit und Wärme scheint nicht zu Narzissmus zu führen, hat aber einen anderen negativen Effekt: geringes Selbstwertgefühl. Brummelman zeigt, dass eine bedingungslose Zuneigung das kindliche Selbstwertgefühl fördert.

Der Artikel erschien im Original in Ausgabe 1/2019 des belgischen Wissenschaftsmagazins »Psyche&Brein«.

Klinische Praxis und psychologische Forschung verstehen unter Narzissmus nicht unbedingt dasselbe. Während Therapeuten wie Schalkwijk und Appelo darin eine frühe und andauernde Entwicklungsstörung sehen, definieren Sozialpsychologen Narzissmus als Persönlichkeitsmerkmal, das in der Bevölkerung normalverteilt ist: Die meisten Menschen liegen irgendwo in der Mitte, Extreme sind seltener.

Gibt es also zwei verschiedene Formen des Narzissmus: eine echte Störung, die in den ersten Lebensjahren aus der Enttäuschung und Vernachlässigung durch die Eltern entsteht, und eine »normale« Variante, die mit übertriebener elterlicher Wertschätzung im Grundschulalter zusammenhängt?

Schalkwijk hält das für wahrscheinlich. Die narzisstischen Probleme, mit denen er sich als Therapeut beschäftigt, hätten wenig mit Narzissmus als Persönlichkeitsmerkmal zu tun. »Ein Persönlichkeitsfragebogen misst Selbstwertgefühl und Individualismus, nicht pathologischen Narzissmus.«

Brummelman hingegen hält normalen und pathologischen Narzissmus nicht für grundverschieden. »Der Kern von Narzissmus ist stets, sich selbst über andere zu stellen. In seiner Extremform kann das zu einer Störung werden.« Seine Forschung zeige, dass Narzissmus nicht unbedingt in einer instabilen Basis wurzelt. Doch in der klinischen Praxis hält sich diese Vorstellung hartnäckig. Das liegt vielleicht daran, dass Eltern oft beides tun: ihr Kind auf einen Sockel stellen und zugleich nicht angemessen auf seine Bedürfnisse reagieren.

Ein bisschen mehr Miteinander

Bei Erhebungen in den USA fällt auf, dass narzisstische Züge anscheinend seit den 1980er Jahren zunehmen. Steht am einen Ende der Skala der Dalai Lama und am anderen Ende Donald Trump, so hat sich der Schwerpunkt anscheinend in Richtung des Letzteren verschoben. Diese Entwicklung erklärt der britische Journalist und Autor Will Storr in seinem Buch »Selfie« aus dem Jahr 2018 mit dem Glauben an die freie Marktwirtschaft. Um in einer Wettbewerbskultur erfolgreich zu sein, sollte man nicht durchschnittlich, sondern ganz und gar großartig sein.

Wenn es den Kern von Narzissmus ausmacht, sich von den Mitmenschen abzuwenden, dann liegt das Heil in der Zuwendung, im Mitfühlen und Sorgen. Wir sitzen alle im selben Boot, und diese Erkenntnis sollte uns auf der Narzissmus-Skala weg von Trump und hin zu einem guten Miteinander bewegen. Natürlich wollen wir nicht alle zu einem Dalai Lama werden. Manchmal möchte man einfach wie Pippi Langstrumpf glauben, dass man alles schaffen kann, auch wenn man es noch nie zuvor getan hat.

Tipps für Eltern

Überschwängliches Lob kann unerwünschte Folgen haben, warnt Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam. Er beobachtete, wie Eltern und Kind gemeinsam eine Aufgabe erledigten, und entdeckte ein Paradoxon: Lobten die Eltern in übertriebener Weise, zeigten die Kinder einige Monate später ein schwächeres Selbstwertgefühl. Unangemessene Komplimente wirkten womöglich verunsichernd, vermutet der Psychologe. Bei Kindern mit hohem Selbstwertgefühl stellte er hingegen fest, dass sie nach überzogenem Lob narzisstischer wurden.

Narzissmus vorbeugen:

  • Versuchen Sie, Ihr Kind objektiv zu beurteilen
  • Loben Sie Engagement, nicht das Ergebnis
  • Loben Sie angemessen
  • Drängen Sie es nicht dazu, andere zu übertreffen
  • Beanspruchen Sie keine Sonderrechte für Ihr Kind

Das Selbstwertgefühl fördern:

  • Zeigen Sie Ihrem Kind, dass es wertvoll ist
  • Unternehmen Sie etwas zusammen
  • Haben Sie gemeinsam Spaß
  • Umarmen Sie es
  • Zeigen Sie Interesse für sein Tun

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