Gastkommentar

Das Beste ist nicht immer gut genug – verschonen wir die Kinder vom Optimierungswahn

Machten sich Eltern früher nicht allzu viele Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, steht heute Perfektionierung auf dem Programm. Optimierung hat das Schicksal abgelöst, Mittelmass wird kaum mehr toleriert. Wer einem solchen Erziehungsideal huldigt, tut seinen Kindern keinen Gefallen.

Margrit Stamm
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Das ist noch kein Rennen. (Bild: Mareen Fischinger / Imago)

Das ist noch kein Rennen. (Bild: Mareen Fischinger / Imago)

Alle wollen ihn haben: den perfekten Körper. Um diesem Ideal zu entsprechen, gehen immer mehr Menschen ins Fitnesscenter. Längst sind es nicht mehr nur Frauen, sondern zunehmend auch Männer, die sich einem solchen Schönheitsdiktat unterwerfen. Doch dieser vor allem medial aufbereitete Trend wäre kaum der Rede wert, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass nun auch Kinder zunehmend Teil dieses Perfektionswahns werden. «Teen Fitness» heisst ein solches revolutionäres Trainingssystem, das es Eltern erlaubt, nicht nur sich selbst, sondern auch den Nachwuchs zu optimieren und ihn zum neuen Investitionsprojekt werden zu lassen. Optimierung hat das Schicksal abgelöst, das nicht Perfekte wird kaum mehr toleriert.

Solche Mütter und Väter verkörpern die Prototypen des modernen Individuums und tun deshalb gar nichts Besonderes. Sie folgen den unzähligen Botschaften, die durch alle gesellschaftlichen Lager hallen und bei weitem nicht nur die Fitness der Kinder betreffen, sondern genauso ihre intellektuelle, musische, künstlerische und sportliche Optimierung. Der Tenor ist immer derselbe: Liebe Eltern, macht das Beste aus euren Kindern. Bleibt am Ball, sucht stets das Neue und strebt nach Erfolg. Vor allem aber müsst ihr in eure Kinder investieren und ihr Potenzial entwickeln, damit sie ihre Möglichkeiten austesten können. Die Kinder sind eure Zukunft!

Eltern-Determinismus

Solche Optimierungsbotschaften kommen gut an, und nicht wenige Eltern schicken sich unhinterfragt in die ihnen zugedachte Rolle als Maximierer. Das ist nicht erstaunlich, denn Mütter und Väter werden heute für alles verantwortlich gemacht. Eltern-Determinismus ist der Begriff dafür, den die amerikanische Soziologin Sharon Heys vor mehr als zwanzig Jahren geprägt hat. Dieser Begriff bezeichnet den Glauben daran, dass die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder grossziehen, eine direkte und determinierende Auswirkung auf das zukünftige Leben der Kinder hat. Mit anderen Worten: Die Fähigkeiten des Kindes und die Fähigkeiten seiner Eltern, gute Eltern zu sein, sind unmittelbar kausal verknüpft.

Janusz Korczak, einer der Grossen der Pädagogik, forderte das Recht des Kindes auf den heutigen Tag und dass wir uns hüten, ständig auf seine Zukunft zu schauen.

Zeigen sich Probleme in der kindlichen Entwicklung, so haben die Eltern nicht genug getan – in erster Linie die berufstätige Mutter. Hingegen gilt ein frühreifes oder besonders leistungsfähiges Kind als Verdienst der Eltern und damit als Ausweis ihrer erzieherischen Kompetenz. Daraus folgt, dass Eltern, die das Risiko verpasster früher Chancen und jenes, dass sich der Schulerfolg nicht so wie erwartet einstellt, in Kauf nehmen, die Schuld bei sich selbst suchen müssen. Was Hänschen nicht lernt, wird für Hans nimmermehr der Fall sein!

Dieser gesellschaftliche Determinismus ist ein wichtiger Grund dafür, weshalb viele Väter und Mütter bei Schwierigkeiten mit dem Sprössling von einer Fachexpertin zur nächsten rennen mit dem Wunsch nach einer psychologischen Diagnose, nur um sich vor Schuldgefühlen und weiteren Optimierungsverpflichtungen zu schützen. Lieber die Diagnose Dyskalkulie als eine schlechte Mathematiknote.

Lähmende Wirkung

Unzweifelhaft entwickelt unsere Gesellschaft einen neuen Entwicklungsimperativ der beschleunigten Optimierungskultur, die auch Kinder nicht verschont und der sich zu entziehen schwierig geworden ist. Optimierung ist zwar an sich nichts Falsches, denn sie ist ein zentrales Thema der meisten Kulturen der Welt. Aber mit Blick auf die kindliche Entwicklung hat das Optimierungskonzept seine grundlegende Ethik verloren, weil es zu sehr auf die Machbarkeit des Individuums zielt und zu wenig auf das, wozu es fähig ist und was seine Neigungen und Eigenheiten ausmacht. Defizite haben in diesem Konzept keinen Platz mehr, genauso nachdenkliche, schwerfällige oder langsame Kinder. Der fast manische Fokus auf die Optimierungskultur entfaltet deshalb eine lähmende Wirkung.

Dies gilt auch für den Leistungssport, der heute immer früher beginnt. Der Gemeinspruch «Jeder ist seines Glückes Schmied» ist die Kurzfassung für die Überzeugung, dass man alles erreichen kann, wenn man nur will. Deshalb muss die Förderung noch vor dem Kindergarten beginnen. Obwohl diese Aussage an sich richtig ist, wird sie von vielen Eltern häufig so interpretiert, dass sie die Macht hätten, das Leben ihres Nachwuchses zu bestimmen, und sein Erfolg das Ergebnis ihrer Bemühungen sei. Nur so lässt sich erklären, weshalb derart viele Mütter und Väter im Leistungssport aus ihrem durchschnittlichen Kind ein aussergewöhnliches Kind machen möchten. Besonders krass zeigt sich dies im Fussball, dem Einstiegssport Nummer eins. Die Nachfrage ist in den letzten Jahren grösser geworden, als die Infrastrukturen und die personellen Ressourcen der Vereine tragen. Allein im Kanton Aargau sind derzeit tausend Kinder auf den Wartelisten der Klubs.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Leistungssport hat seine guten Seiten, aber es kommt auf das Wie und das Ob an: wie Kinder begleitet, unterstützt und herausgefordert werden und ob auf ihre tatsächlichen Interessen und Begabungen Rücksicht genommen wird. Trifft dies zu, entwickeln sich sportlich begabte Kinder oft sehr gut, haben in der Schule kaum Probleme und sind organisierter, durchsetzungsfähiger und frustrationstoleranter. Eine zunehmende Problematik ist allerdings der Ehrgeiz der Eltern. Zwar gilt, dass Ehrgeiz und ein gewisser Druck bei weitem nichts Schlechtes sind. Trotzdem haben viele Kinder enorme Mühe damit und brechen unter den hohen Erwartungen zusammen.

Auf der Bank sitzen bleiben

Hier zeigt sich eine dunkle Seite des Leistungssports, über die im Allgemeinen wenig gesprochen wird: Was geschieht eigentlich mit den Kindern, die den Erwartungen nicht genügen und die in die zweite oder die dritte Reihe versetzt werden? Für diese Kinder tönt das nicht nur brutal, sondern es ist es auch. Im Fussball beginnt eine solche Rückversetzung meist damit, dass die besseren von ihnen auf einen Match vorbereitet werden und deshalb spielen dürfen, die schlechteren jedoch immer auf der Bank sitzen bleiben müssen. Obwohl sie vielleicht jahrelang mehr trainiert haben, als es ihren Fähigkeiten entsprach, verschwinden sie in der Versenkung und müssen damit klarkommen. Für ihre Eltern ist es oft eine herbe Enttäuschung, wenn der Traum vom Spitzenfussballer platzt.

Kann diesem Trend überhaupt etwas entgegengesetzt werden? Ist es möglich, auf die Seelen der Kinder Rücksicht zu nehmen, statt blinde Optimierung zu verfolgen, und sie ihre Wurzeln schlagen zu lassen, statt den kindlichen Erfolg als den eigenen zu zelebrieren? Geht es nach dem Wissenschafter Svend Brinkmann, gibt es auf solche Fragen eine provokative Antwort: Standfestigkeit. Wir sollten nicht andauernd nach dem Besten für unseren Nachwuchs streben, sondern lernen, realistischere Werte zu entwickeln, überfordernde Erziehungsmuster abzubauen, dann aber auch zu diesen Werten zu stehen.

Das Recht auf Durchschnittlichkeit

Das tönt reichlich konservativ. Doch in einer Welt der permanenten Optimierung und Weiterentwicklung werden bestimmte Formen des Konservativismus direkt progressiv. Der wichtigste Schritt, um Standhaftigkeit zu lernen, ist die Entwicklung einer Antihaltung, und zwar gegenüber dem Bild des immer tolleren Kindes, das früher, besser und schneller als alle anderen Kinder ist, aber auch gegenüber vielen Ratgebern. Zu oft bieten sie sich als Checklisten an, mit denen Eltern aus ihren Kindern erfolgreiche Menschen machen können. Deshalb wirken Ratgeber wie eine Einstiegsdroge, weil der Rausch die Besinnung darauf verunmöglicht, dass Kinder nicht wie Diamanten so lange geschliffen werden können, bis sie den eigenen Vorstellungen entsprechen. Und dies führt mitten in den Teufelskreis, immer auf der Suche nach dem nächsten Optimierungsziel zu sein, ohne dass sich Glück und Zufriedenheit einstellen und das Kind erfolgreicher wird.

Standfestigkeit entwickeln – eine konservativ tönende Botschaft, die zum Wohl der Kinder das neue Progressive werden könnte. Anstatt treu der Optimierungsdiktatur zu folgen, fragen sich standfeste Väter und Mütter vor allem, was ihre Kinder brauchen. Janusz Korczak, einer der Grossen der Pädagogik, forderte das Recht des Kindes auf den heutigen Tag und dass wir uns hüten, ständig auf seine Zukunft zu schauen. Er formulierte auch das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist, also auch normal zu sein. Eltern, die diese Kunst beherrschen, wissen vor allem intuitiv, wann Optimierung beflügelt und wann sie lähmt. Kinder, die dank standfesten Eltern auf stabilem Boden stehen, Wurzeln entwickeln und im Hier und Jetzt leben dürfen, sind am besten für die ungewisse Zukunft gerüstet.

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü. Zuletzt ist bei Piper erschienen: «Neue Väter brauchen neue Mütter: Warum Familie nur gemeinsam gelingt».